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Das Verwursten der studentischen Kritik

Interpretation des Briefes von Dieter Lenzen an alle Studierenden

„Eine Partei, die neben dem Glauben an die Gesetzte auch den Adel verwerfen würde, hätte sofort das ganze Volk hinter sich, aber eine solche Partei kann nicht entstehen, weil den Adel niemand zu verwerfen wagt.“

Franz Kafka, „Zur Frage der Gesetze“, 1920.

Es ist wahrscheinlich ein hochschulpolitisches Novum für die ganze Republik, daß eine Präsidentenkür und ein Kandidat von Beginn an öffentlich so scharf kritisiert werden wie Dieter Lenzen und seine hektische Einsetzung als Präsident der Uni Hamburg durch den wirtschaftskonformen Hochschulrat. Die machtpolitischen Schiebereien waren ersichtlich nötig, um nach der Absetzung von Frau Auweter-Kurtz erneut einen profilierten Vertreter unternehmerischer Zurichtung der Hochschulen durchzusetzen; einen, der in Berlin negatives Ansehen mit dem Zuschneiden der Freien Universität auf Marktanforderungen, der Abwicklung gesellschaftskritischer Fächer und der Mißachtung demokratischer Mitbestimmung erwarb.

In Hamburg hat deshalb eine studentische Vollversammlung von ca. 1.500 Teilnehmern kurz nach seiner Inthronisierung die Revision dieser Personalentscheidung gefordert und dies mit folgenden Forderungen verbunden:
„Eine künftige Universitätsleitung muß:
— im Einklang mit der Präambel der Grundordnung und dem Leitbild der Universität für sozial verantwortliche Wissenschaft und Bildung mündiger Menschen für eine friedliche, demokratische und gerechte Gesellschaft eintreten,
— die Einheit von Forschung, Lehre, Studium und Selbstverwaltung vertreten,
— den kooperativen Zusammenhang der Universität und die Fächervielfalt fördern,
— in diesem Verständnis für eine bedarfsgerechte, öffentliche Hochschulfinanzierung und demokratische Mittelverteilung einstehen, anstatt die inhaltliche Einflussnahme privater Geldgeber und die konkurrenzverschärfende Drittmittelorientierung zu befördern,
— die sofortige Abschaffung aller Studiengebühren befürworten und sich aktiv dafür einsetzen,
— sich den Positionen und Beschlüssen der akademischen Gremien verpflichtet sehen und die gleichberechtigte Verständigung mit allen Statusgruppen und ihren Interessenvertretungen suchen.“

aus: Resolution der studentischen Vollversammlung vom 23.11.2009

Die positive Eindeutigkeit dieser Kritik hat den Neugekürten noch vor seinem Amtsantritt veranlaßt, sich per Post an alle Studierenden der Hamburger Universität zu wenden. Am 3.12.2009 erreichte alle ein Schreiben, in dem der Kandidat sich leutselig – nach seiner Einsetzung – den Studierenden vorstellte. Dafür hat er viel Kreide verzehrt. Der raue Grundton bricht dennoch immer wieder durch. Das wollen wir hier anhand des Schreibens von Dieter Lenzen exemplarisch deutlich machen.

„1. Die Universität ist eine sehr gute Universität, die zu Unrecht von manchen für mittelmäßig gehalten wird. Daten und Erfahrungen sprechen für die Qualität der Universität Hamburg.
2. Die Universität Hamburg ist eine Volluniversität und muß es bleiben, weil Fächervielfalt eine ihrer Stärken ist.[...]“

An die Stelle eines qualifizierten Bezuges auf die Verantwortung von Universität für die Humanisierung der Gesellschaft – wie sie auch im Leitbild gefaßt ist – wird hier als einziger verbindlicher Maßstab das Bestehen in der Konkurrenz und scheinbar natürliche Hierarchie (Exzellenz – Mittelmaß – Schwachleister) gesetzt. Auch Sozial- und Geisteswissenschaften seien dann legitim, wenn sie als Konkurrenzvorteil einsetzbar sind. – Hier geht es nicht um kooperativen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und Bildung für ein sozial und kulturell befreites Zusammenleben der Menschheit, sondern um Sieg der eigenen Einrichtung im Kampf der Standorte. Dafür wird auch in Corporate Identity gemacht und eine völlig unbestimmte „Qualität“ gelobt. Erst Zuckerbrot, dann die Peitsche.
Für die Umworbenen – wie für alle anderen – ist das durchschaubar.

„3. Die Universität Hamburg hat eine große Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements in der Demokratie. Sie steht für Freiheit und einen gerechten Umgang der Menschen miteinander.[...]“
Man könnte sagen: Falsch, setzen, sechs. Die Universität steht nicht für „bürgerschaftliches Engagement in der Demokratie“, sondern geschichtlich gleich mehrfach für den Kampf um die Demokratisierung der Gesellschaft selbst. Sie ist mit einer Revolution 1919 auf die gesellschaftliche Bühne getreten und sie ist nach ihrem Versagen zwischen 1933-1945 und einer Etappe der Restauration in den 1960er Jahren ein zentraler Ort studentischen Engagements gegen die post-faschistische Kontinuität in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft gewesen, hier wurde – vergleichbar übrigens der FU Berlin – auf dieser Basis eine umfassende Demokratisierung der Bildungseinrichtungen und des Studierens erkämpft und damit wesentlich dazu beigetragen, daß die Universitäten nicht elitäre Kaderschmieden der Herrschenden sind, sondern demokratische Massenhochschulen, die dem allgemeinen Wohl verpflichtet seien.
Demokratie ist nicht, was uns „die Amerikaner“ brachten und Konrad Adenauer erklärt hat, sondern eine täglich zu realisierende solidarische und kritische Anteilnahme an den Mitmenschen und der gesellschaftlichen Entwicklung.

„4. Die Universität Hamburg hat einen gesellschaftlichen Auftrag, aber sie ist nicht Auftragnehmerin von Einzelinteressen. Als öffentliche Universität muß sie Verantwortung für die Ausbildung der nachwachsenden Generation und für die Forschung übernehmen.“
Abgesehen davon, daß die Berliner Praxis des ehrenwerten Herrn eher von der direkten Verknüpfung ökonomischer Interessen mit der Wissenschaft zeugt, wird hier ein problematisches „Top-Down“-Weltbild und -Erziehungsverständnis deutlich: Lernen sei demnach nicht kooperative Weltaneignung, sondern eine Vermittlungsaufgabe der Alten an die Jungen. Werte, Haltungen und Wissen sollen verabreicht, nicht in egalitärer Auseinandersetzung kritisch überprüft, geistig angeeignet und weiterentwickelt werden. Zur Erinnerung: Dieter Lenzen formuliert auch: „Eine Bildungsrevolution wird nur gelingen, wenn wir, die Bürger, in allen Schichten, begreifen: Bildung heißt in erster Linie Selbstdisziplin, Anstrengung, Verantwortung, Fairneß gegenüber den anderen und Respekt gegenüber den Erziehenden.“ (www.wirtschaftundschule.de/WUS/homepage/Aktuell/Bildungspolitik/Mehr_lernen__was_sonst_.html?version=w)
Das artige Wiederkäuen vorgesetzten Gemüses ist das Gegenteil von Bildung mündiger Menschen und eines kooperativen Lehr-Lern-Verhältnisses. Hier sollen willige Untertanen gezüchtet werden.

5. „[...] Das heißt, Lernen ist ein autonomer Vorgang, der im Bewußtsein jedes einzelnen Menschen individuelle Wege nimmt.“
Ohne Mitmenschen, Bücher, Diskussionen, Lerngruppen, Anleitung, Kritik, Fragen, historisches Bewußtsein? Sind Monaden intelligent?
„Diese [individuellen Wege] dürfen nicht durch Überregulierungen und Bürokratismus behindert werden. Die Reform des Bologna-Prozesses ist deshalb dringend überfällig. Es müssen Freiräume geschaffen und Druck gemindert werden, unter anderem dadurch, daß Anwesenheit nicht unpädagogisch erzwungen und kleinlich kontrolliert wird, daß Lehrpläne nicht überfüllt sind, daß die sog. Workload und Leistungspunkte realistisch berechnet werden.“
Im Klartext: Lernen darf durch Regulierung und Bürokratie behindert werden. Druck wird akzeptabel, wenn er gemindert wird. Dafür ist die Anwesenheit pädagogisch zu erzwingen und großzügig zu kontrollieren. Lieber verzichte man auf Lehrinhalte, anstatt die Studienzeit zu verlängern. Der Hürden-Parcours ist übersichtlicher zu stecken. – Das ist nicht Bildung als Emanzipation, sondern sanftere Dressur, nachdem die Versuchstiere in zu großer Zahl auf der Strecke geblieben sind. Eine demokratische Studienreform für kritischen Gesellschaftsbezug und solidarisches Lernen bleibt damit erforderlich.

„6. Das Studium an einer Universität darf nicht durch Geldforderungen erschwert werden.“
Es heißt, Lenzen sei gegen Studiengebühren. Tatsächlich ist er gegen eine soziale Selektion beim Bildungszugang, nicht aber gegen eine Auslese nach „Leistungskriterien“ (,die letztlich auch sozial fundiert sind). Zudem spricht er für die konformistische Lenkung des Studierverhaltens, auf die auch die Studiengebühren zielen.
Eine klare Ablehnung der Gebühren wäre deshalb sicherlich ein Werbegag für den schmeichlerischen Präsidenten in spe. Es ist umso erstaunlicher, daß er bisher nicht ein einziges Mal ihre Abschaffung – auch in ihrer nachgelagerten Form – gefordert hat. Schließlich sind die Voten der Studierendenschaft und der akademischen Gremien in dieser Sache mehr als eindeutig.

„7. Die Universität Hamburg ist eine Universität mit hoher Internationalität. Diese muß erhalten und ausgebaut werden. Deswegen gilt es zuerst, jede Form der Ausländerfeindlichkeit gerade auch in subtilen Formen zu bekämpfen. [...]“
Ausländerfeindlichkeit ist kein Merkmal der Universität Hamburg; Dieter Lenzen aber hat sich mit Äußerungen über den angeblichen Zusammenhang von Intelligenz und „Abstammung“ weit rechts aus dem Fenster gehängt. Das will er wohl wieder gut machen.
Eigentlich erforderlich wäre, die historisch gewachsene und durch zwanzig Jahre Unterfinanzierung stark behinderte internationalistische Ausrichtung der Universität für Frieden und Völkerverständigung – materiell, mental und strukturell – zu aktualisieren.

8. „[...] Forschung und Lehre stellen eine Einheit dar. Qualitätvolle Lehre beruht auf qualitätvoller Forschung. [...] Exzellenzstreben darf auf keinen Fall Vorrang vor dem Anspruch aller auf gute Lern- und Arbeitsbedingungen haben.“
Abgesehen davon, daß man eine Definition von „Qualität“ vergeblich sucht, widerspricht der Mann sich selbst: Wenn Forschung der Ausgangspunkt der Lehre wäre, dann müßte die vielbesungene exzellente Forschung auch „Vorrang“ gegenüber der Lehre haben. Dies entspricht der Praxis des Präsidenten an der FU Berlin. Hier soll also nur abgewiegelt werden, weil die Kritik, daß die Exzellenzorientierung zu Lasten der Fächerbreite und der Qualität der Lehr- und Lernbedingungen für die Mehrheit geht, trifft.
Die dialektische Einheit von Lehre und Forschung ist sinnvoll immer von der Hauptseite der Lehre her zu bestimmen: Erst die Kooperation und Kritik in der Auseinandersetzung gibt der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse Dynamik und soziale Bodenhaftung. Lehre ist auch Lernen.

„9. Die Universität Hamburg ist eine große Einrichtung, bei der es darauf ankommen wird, durch Serviceleistungen und gegenseitige Aufmerksamkeit das Studieren, Forschen und Unterrichten zu erleichtern. [...]“
Man muß sich entscheiden: Entweder „Service“, also Dienstbarkeit, oder egalitäre, produktive Kooperation. Wissenschaft ist eine Kultur, kein technischer Vorgang.

„10. Die Universität Hamburg hat eine große Zukunft, wenn wir gemeinsam, kompetent, entschlossen und mit Optimismus diese Zukunft gestalten und uns nicht beirren lassen. [...]“
Hier wird an die Konkurrenzfähigkeits-Doktrin angeknüpft, an die große Gemeinschaft, die gegen andere, feindliche Horden zusammenhält. Wer siegen will und artig daran glaubt, werde angeblich zu den Gewinnern zählen – so geht das Versprechen. Das ist ähnlich wie im Krieg.
Wer aber die Prämissen, Maßnahmen und Richtung der Entwicklung und Entscheidungen in Frage stellt und kritisiert, kann dann als Querulant und Zersetzer abgestempelt werden.
Egal, mit wieviel rhetorischem Weichspüler die Sprache hier behandelt wird – rechts bleibt rechts.
Das Contra dazu muß wachsen.

„Denn wir sind Nein-Sager. Aber wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest. Und wir haben keine Ruhe beim Küssen, wir Nihilisten. Denn wir müssen in das Nichts hinein wieder ein Ja bauen. Häuser müssen wir bauen in die freie Luft unseres Neins, über den Schlünden, den Trichtern und Erdlöchern und den offenen Mündern der Toten: Häuser bauen in die reingefegte Luft der Nihilisten, Häuser aus Holz und Gehirn und aus Stein und Gedanken ...“

Wolfgang Borchert, Das ist unser Manifest, Hamburg 1947.

Es gibt keine „Stunde Null“, aber den ersten Schritt.