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Olaf Scholz auf dem „Zauberberg“
„Sehr geehrter Herr Professor Schwab,
meine Damen und Herren,
wenn einer, der wie ich in Hamburg aufgewachsen ist, hierher nach Davos kommt, dann stellen sich ganz unweigerlich Gedanken ein an Thomas Mann und seinen großen Roman vom „Zauberberg". So ging es mir zumindest auf dem Weg hierher, zumal der Davos-Besuch des Hamburgers Hans Castorp im Roman mit dem endet, was Thomas Mann den „Donnerschlag" nennt, nämlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914.“
Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des Jahrestreffens des „World Economic Forum“ am 26. Mai 2022 in Davos.
„Humanist – gewiß, ich bin es. Asketischer Neigungen werden Sie mich niemals überführen. Ich bejahe, ich ehre und liebe den Körper, wie ich die Form, die Schönheit, die Freiheit, die Heiterkeit und den Genuß bejahe, ehre und liebe, – wie ich die ›Welt‹, die Interessen des Lebens vertrete gegen sentimentale Weltflucht, – den Classicismo gegen die Romantik.“
Thomas Mann, „Der Zauberberg“, 1924, Ludovico Settembrini (Humanist) zu Hans Castorp („Sorgenkind des Lebens“) im Kapitel „Enzyklopädie“, Berlin und Weimar 1987, S. 330.
„Soziale Demokratie ist heute an der Tagesordnung; nur in dieser geistigen Form und Verfassung, als eine zum Sozialen gereifte Freiheit, welche durch freiwillige Zugeständnisse an die Gleichheit die individuellen Werte rettet, kann Demokratie überhaupt noch bestehen – innerhalb der Völker und zwischen ihnen.“
Thomas Mann, „Dieser Krieg“, 1940.
Hat der amtierende Bundeskanzler den „Zauberberg“ wirklich gelesen? Hat er ihn auch verstanden?
Richtig: Hans Castorp kommt aus Hamburg, von der Esplanade, nahe dem Dammtorbahnhof.
Er stammt aus bürgerlichen Verhältnissen und soll Inge- nieur werden. Bevor er ins Berufsleben geht, besucht er seinen Vetter Joachim Ziemßen in Davos, einem luxuriösen Lungensanatorium zur Ausheilung der Tuberkulose (was selten gelingt). Ursprünglich geplant sind lediglich drei Wochen, aus denen insgesamt sieben Jahre werden. Sieben Jahre vor dem Ersten Weltkrieg („... der Welt vor dem großen Kriege“), in den der gewöhnliche Held hineingeworfen wird.
Davos ist der beispielhafte Ort der bürgerlichen Dekadenz. Aber auch der lehrreichen Dispute und Erfahrungen. Das Werk ist ein Plädoyer gegen den Krieg, der durch das „Bündnis der Eliten“ (Fritz Fischer, Hamburger Historiker) hauptsächlich zu verantworten war.
Seine gesellschaftliche Nicht-Bewältigung führte in den Zweiten Weltkrieg, der durch die Befreiung der Alliierten (USA, Sowjetunion, Großbritannien) am 8. Mai 1945 beendet wurde.
Der Bundeskanzler legitimiert mit dem Bezug auf das humanistische literarische Werk die enorme Aufrüstung der Bundesrepublik von 100 Milliarden Euro sowie den ökonomischen Wettbewerb mit vorrangig technischem Fortschritt. Unangemessener kann dieser Bezug kaum sein. Thomas Mann (1875-1955) ist spätestens seit dem „Zauberberg“ für Frieden, soziale Demokratie (vehemente Befürwortung des „New Deal“ von Franklin D. Roosevelt, 1933-1945), Aufklärung und Humanität literarisch, publizistisch und politisch aktiv gewesen.
Davos ist ein luxuriöser Ort der bürgerlichen Dekadenz geblieben. Das Lungensanatorium existiert nicht mehr. Das Weltfremde ist geblieben. Fortgesetzt sind viele Probleme der damaligen Welt heute noch präsent. Aufrüstung steht der Beseitigung des Hungers in der Welt entgegen. Waffen schaffen keinen Frieden. Die soziale Demokratie steckt im Neoliberalismus fest. Die happy
few sind nicht in der Lage, die Probleme der Welt zu lösen. Dafür bedarf es eines neuen Engagements von sozialen und Friedensbewegungen, d.h. auch des humanen Einsatzes von Wissenschaften, Kunst und Kultur.
Zu diesen Zwecken lohnt es sich auch, den „Zauberberg“ (neu) zu lesen. Der Sinn für den „Dienst an der Menschheit“ läßt sich so tiefer ermessen. Da mag Olaf Scholz auch in Hamburg aufgewachsen sein. Das ist kein Garant vor schwerwiegenden Irrtümern.