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Wahr, aber nicht gut?

Eine Kontroverse über „Fragen der Wissenschaftsethik“

„Diese Schizophrenie grassiert, weil zwar einzelne Wissenschaftler, aber nicht die Wissenschaft über einen verbindlichen Moral-Kodex im Sinne des hippokratischen Eides für Ärzte verfügt, sich also nicht in der Lage sieht, die spätestens durch den potentiellen [atomaren] Holocaust unabdingbar gewordene Kongruenz von Ethik und Wissenschaft mit den ihr eigenen Mitteln: szientifisch also zu analysieren ... und eben dies ist die condition sine qua non umfassender Verweigerung: der Resistance einer Wissenschaft, die ihr Ziel, die Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern, durch Botmäßigkeit gegenüber der Militärindustrie ins Gegenteil verkehrt sieht [...].“

Walter Jens*, „Hippokrates und Holocaust“, 1984.

Die Botmäßigkeit der Wissenschaften gegenüber großen Geldgebern bzw. Käufern von Erkenntnissen und Arbeit ist ungemindert problematisch. Dem Militärischen seien hier exemplarisch Pharma-, Versicherungs-, Medien- und Energie-Unternehmen sowie drängend umworbene staatliche Auftraggeber hinzugefügt. Dies hat dazu beigetragen, daß bis heute „der totale Triumph wissenschaftlichen Entdeckens zugleich das Ende aller Forschung bedeuten könnte“. (W.J. a.a.O.)

Im Akademischen Senat (AS) wurde dennoch über die Bedeutung und den Nutzen seines Ausschusses „Rat zu Fragen der Wissenschaftsethik“ gestritten. Nachdrücklich vertrat ein professorales Mitglied, „Ethik“ solle in diesem institutionellen Zusammenhang die Gewährleistung des „Fairplay“ zwischen bzw. gegenüber Wissenschaftlern sein. Andere äußerten, es handele sich nicht um eine Aufgabe des AS, weil hierfür kein gesetzlicher Auftrag an dieses Gremium bestünde.

Dagegen spricht zunächst die Tätigkeit dieses Ausschusses, der u.a. in den 1990er Jahren die biologistische Tendenz in der Hamburger Humanbiologie wirksam kritisierte sowie später eine öffentlich aufklärende Ringvorlesung zur Stammzellendebatte anstieß.
Außerdem sollte die Universität zügig den Weg von einer scheinbar neutralen und teils willfährigen Wissenschaft zu einem Selbstverständnis beschreiten, in dem die Subjekte der Wissenschaften ihre verallgemeinerbaren Interessen des Friedens, der Humanität und des sozialen Fortschrittes als unleugbare Kriterien wahrhaftigen Erkennens anerkennen sowie gegen äußere und innere negative Beeinflussungen engagiert vertreten.
Wie sonst sollte sich eine Universität gegen die ebenso ätzenden wie beschränkten Verwertungsanforderungen einer zügellosen Ökonomie und einer kapitalfrommen Politik („Wachsende Stadt“) entwickeln können? Wie sonst sollen die beiden zentralen menschheitsbedrohenden Probleme – das der (atomaren) Hochrüstung und der ökologischen Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen – gelöst werden? Wie wäre eine (Lern-)Republik zu verwirklichen, in der das Voranschreiten der einzelnen zum Wohle Aller gereicht?

Erst eine Universität, die diesen Anspruch durchgängig praktisch ernst nimmt (und nicht nur proklamiert) und ihn dafür auch übergreifend institutionalisiert verfolgt, kann beanspruchen, eine gesellschaftlich nützliche Angelegenheit zu sein. Der „Ethikrat“ der Uni sollte deshalb weiterhin tätig sein und an Bedeutung gewinnen.
Der Mensch als kulturelles Wesen ist ein konkreter Maßstab. Die Verneinung humaner Ansprüche (z.B. durch Leistungskennzahlen, autoritäre Anordnungen, BA/MA-isierung und Studiengebühren) macht Forschung, Lehre, Studium und Selbstverwaltung deshalb mühselig, abstrakt und irrational. Der Gesellschaft durch fortschrittlichen Einsatz ein menschliches Antlitz geben zu wollen, wäre dagegen der Beginn einer produktiven politischen Kontroverse.
Der Akademische Senat hat dafür Verantwortung. Wirklich.


* Walter Jens, geb. 1923 in Hamburg, Professor für Allgemeine Rhetorik in Tübingen, war Mitglied der „Gruppe 47“ und später ein bedeutender Akteur der west-deutschen Friedensbewegung. Er ist Träger der „Bruno-Snell-Plakette“ der Universität Hamburg.