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Zivil ist sozial

Zu einer richtigen Gewichtung

Kriegsgesellschaft
„Er [Boris Pistorius, „Bundesverteidigungsminister“ (SPD)] muss eine Gesellschaft, die erst jahrzehntelang an Frieden gewöhnt war und dann immerhin noch hoffen konnte, die Bundeswehr werde nur in weit entfernten Ländern kämpfen, damit vertraut machen, dass es eine neue Wirklichkeit gibt, die einer sehr alten Wirklichkeit wieder nahe kommen kann. (…) Denn auch diejenigen, die weder stramme Pazifisten noch Militaristen sind – also die Mehrheit der Deutschen – sehen, dass ein selbstverständlicher Umgang mit dem Militärischen unvermeidbar ist. Boris Pistorius ist zum Chefmechaniker der Zeitenwende geworden, die der Kanzler ausgerufen hat.“

Eckart Lohse, „Chefmechaniker der Zeitenwende“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“), 4.7.2023, S. 1 (Leitkommentar).

Soziale Klemme
„Einer der größten Irrtümer vieler Angehöriger der Mittelschicht besteht darin, dass sie Armut für etwas halten, das ihnen nicht zustoßen kann. (…) In Deutschland gelten etwa vierzehn Millionen Menschen als arm. Das bedeutet, dass sie über weniger als fünfzig Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügen. Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 sind das 840.000 Menschen mehr als vor der Corona-Pandemie. (…) Die mehr als 960 Tafeln, die es in Deutschland gibt, befinden sich in einem Ausnahmezustand. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich die Zahl der Bedürftigen dramatisch erhöht, bei etlichen Ausgabestellen hoffen inzwischen sogar doppelt so viele Menschen wie früher auf eine auskömmliche Ration – und werden enttäuscht, denn die Lebensmittelspenden für die Tafeln sind eingebrochen.“

Melanie Mühl, „Akademikerin, ganz unten“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“), 8.7.2023, S. 9.

Ein schlechter Witz
„Und gerade mal 41 Cent soll der Mindestlohn steigen. Gegen die Stimmen der Gewerkschaften hat die Mindestlohnkommission vergangene Woche dieses Ergebnis für 2024 und 2025 verkündet. Es ist ein Anstieg um drei Prozent pro Jahr im Angesicht von Rekordinflation und Reallohnverlust. Dabei entlarvt allein die Tatsache, dass Arbeitgeberseite und Kommissionspräsidentin die Gewerkschaften überstimmen können, die Einrichtung, die dazu gedacht war, den Konflikt um den Mindestlohn gleichberechtigt und jenseits von Tarifauseinandersetzungen zu verhandeln.“

Ines Schwerdtner, „der freitag“, Nr. 27/6.7.2023, S. 5.

Ohne falschen Respekt
„Tui Hoo hatte keinen Respekt vor Denkmälern. Nicht etwa, weil sie feist waren und rotlackierte Fingernägel hatten – nein, Tui Hoo war kein Spießbürger, der sich über seinen Nachbarn aufregte, weil er einen komischen Hut trug. Er verkehrte häufig mit Damen, die Zigarren rauchten und heiser waren wie Gießkannen, oder mit Männern, die Ohrringe trugen und deren Hosenbeine weit waren wie Frauenkleider. Nein, kleinlich war Tui Hoo nicht.“

Wolfgang Borchert, „Tui Hoo“, 1947.

Die Anordnungen häufen sich. Es ist gut, daß uns gesagt wird, was die neue Wirklichkeit sei: Vorbei sind die schönen Zeiten. Fahren gelassen alle Hoffnungen.
Frieden als die Beendigung von Kriegen, der Abschied vom Militarismus, Abrüstung, internationale Kooperation, Überwindung von Hunger und Elend, die Bewältigung der Klimakrise, Kulturaustausch, faire Handelsbeziehungen, zivile Produktion – diese humanen Ansprüche für eine menschenwürdige Zivilisationsentwicklung liegen vor der Zeitenwende und ihrem „Chefmechaniker“, ausgerechnet einem Sozialdemokraten.

Desgleichen hat die öffentliche Hand als Sozial-, Bildungs- und Kulturstaat mit allgemeinnützlicher Verantwortung für ein heilendes Gesundheitssystem sowie einer funktionierenden Infrastruktur und politisch freundlichen Beziehungen zu anderen Ländern auf der Erde in die zweite oder dritte Reihe zu treten. Die Bevölkerung lege die Hände an die Hosennaht!

Ebenso die Arbeitsverhältnisse bleiben prekär.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes war das Beschäftigungsverhältnis 2021 lediglich für 43 Prozent der Lohnabhängigen durch einen Tarifvertrag geregelt. Im Westen der Republik für 45 Prozent, im Osten für nur 34 Prozent. Die Mehrheit arbeitet also ohne tarifliche Sicherung – mit einer deutlichen Diskrepanz zum Nachteil der östlichen Bundesländer.

Die Reallöhne hinken den Lebenshaltungskosten hinterher, gleichfalls der Mindestlohn. Die Arbeitskämpfe konnten (noch) nicht für einen angemessenen Ausgleich sorgen. Die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich steht drängend auf der Tagesordnung. Bescheidenheit ist keine Zier, denn besser lebt´s sich ohne ihr.

Eine Kriegs- und Verzichtsgesellschaft hat keine Perspektive. Sie bringt den vernünftig vermeidbaren Aufschwung rechtsextremer Idiotien und Kräfte.

Hingegen ein rational beherztes Engagement für Frieden, soziale Gerechtigkeit und die Lösung der globalen Probleme setzt andere und kontroverse Akzente gegen die Destruktivität und für eine humane Entwicklung. Die Welt braucht keine Mechanik angehäufter und angewandter Waffen. Der Heroismus hat ausgedient. Die Menschenwürde ist die Tatsache der zivilen, sozialen, aufgeklärten und demokratischen Entfaltung gesellschaftlicher Potentiale. Aus der Geschichte ist zu lernen.

In diesem Zusammenhang sind Bildung, Kunst, Kultur und Wissenschaft unverzichtbare Lebensmittel. Die Hochschulen haben eine gewachsene Verantwortung für die rationale Entwicklung der menschlichen Lebensbedingungen. Entgegen den martialischen Einreden. Für ein allseitig angenehmes Dasein als produktive Gemeinschaft. Die Beteiligung daran öffnet den Alltag.
Niemand sollte bescheiden sein.